Weitere Bilder des Carillons gibt es hier.
Zur Geschichte des Glockenspiels
Schon seit vielen Jahrhunderten gibt es Glocken, die in Türmen aufgehängt waren und zu bestimmten Tageszeiten oder Anlässen geläutet wurden:
- die „Brandglocke“ alarmierte die Menschen bei Feuerausbrüchen
- die „Totenglocke“ kündigte ein Begräbnis an
- beim Läuten der „Abendglocke“ wurden die Stadttore geschlossen
- die „Kirchenglocke“ rief zu Gottesdiensten
All diese Glocken wurden ursprünglich mit einem Seil in Schwingungen versetzt, wobei der Klöppel in ihrem Innern sie zum Klingen brachte – die Glocke „läutete“.In den Niederlanden und in Belgien entwickelte sich die Tradition des „Beierns“ Ende des 15. Jahrhunderts weiter, indem man die Zahl der Glocken erweiterte, die Enden der Seile an horizontal angelegten, kurzen Holzstäben befestigte und damit die Glocken anschlug: Vorläufer der noch heute üblichen, mechanischen Hebelklaviatur (niederl. Stokkenklavier“). Das 17. Jahrhundert wurde zur Blütezeit der Glockenspielkunst. Mehr als 50 hervorragende Spiele gingen aus den Werkstätten der Gebrüder Hemony (Amsterdam) hervor, viele davon erklingen heute noch; zahlreiche Originalkompositionen für das Glockenspiel entstanden. Im 19. Jahrhundert geriet die Glockenspielkunst in Vergessenheit. Fast überall erklang nur noch das automatische Spiel (durch mechanische Walzen), oft jahraus, jahrein mit der gleichen Melodie. Die Automatik des Glockenspiels der Potsdamer Garnisonskirche z. B. spielte von 1797 bis zum Untergang des Instruments im Jahre 1945 nur noch „Lobe den Herren“ und „Üb immer Treu und Redlichkeit“. In Flandern dagegen wurde auch im 19. Jahrhundert die Glockenspielkunst weiter gepflegt. Das Zentrum war und ist noch heute die Stadt Mecheln mit ihrem berühmten Hemony-Spiel im Turm der St.-Rombouts-Kathedrale. 1922 gründete Jef Denijn dort die belgische Glockenspielerschule, die noch heute besteht. Im 20. Jahrhundert erwachte das Interesse an der Glockenspielkunst auch in Holland wieder. Viele Niederländer studierten in Mecheln, und seit 1953 hat Holland eine eigene Glockenspielerschule in Amersfoort. Heute ist, trotz der Unterbrechung zweier Weltkriege, das Glockenspiel in seiner alten Heimat, den Niederlanden und Belgien, mit mehr als 250 echten Carillons zu voller Blüte gelangt. In Nordamerika existieren ca. 150 Spiele, die meist sehr tief und schwer im Klang sind. Demgegenüber erscheint die Bundesrepublik in dieser Hinsicht als Entwicklungsland: Zwar gibt es bei uns ca. 200 Glockenspiele, die jedoch fast immer durch eine Automatik oder eine elektrische Pianoklaviatur erklingen. Lediglich ca. 20 dieser Instrumente sind echte, handgespielte „Carillons“. Das größte europäische Carillon mit 68 Glocken und einem Gesamtgewicht von 48 Tonnen wurde im Oktober 1987 in Berlin-West (Glockenturm an der Kongreßhalle) durch die Gießerei Eijsbouts errichtet. Die Bourdon-Glocke f0 hat ein Gewicht von 7,7 Tonnen. Die Glockenspieler von Europa und Nordamerika sind in der Art von alten Handwerkergilden organisiert. Die niederländische Vereinigung hat sogar noch einzelne regionale und städtische Gilden. Neben Ausbildung und Information werden auch Noten veröffentlicht, denn welcher Verlag druckt schon für eine solch kleine Zahl von Instrumentalisten?
Etwa im 13. Jahrhundert kamen die Glöckner auf die Idee, ein Seil am Klöppel zu befestigen und damit die Glocke anzuschlagen: Auf drei Glocken konnte man damit schon eine kleineMelodie spielen. Diese Spielart nannte man „Beiern“. Daraus entstand wohl auch die niederländische Bezeichnung „Beiaard“ für das Glockenspiel; der Spieler heißt hier heute noch „Beiaardier“. Bereits im Mittelalter gab es erste Turmuhren, mit denen man mehrere Glocken verband, die viertelstündlich laut anschlugen. Nur wenige Menschen besaßen damals eigene Uhren. So war man auf diese Schläge angewiesen, um die Uhrzeit zu erfahren. Damit der Beginn des Schlagens nicht so leicht zu überhören war, ließ man als „Vorwarnung“ durch den Türmer eine kleine Melodie auf zumeist vier Glocken spielen. Von der Vier-Zahl der Glocken (quarré) stammt wohl der französische Name des Glockenspiels „Carillon“, mit dem heute international ein handgespieltes Glockenspiel bezeichnet wird.
Carillon oder Glockenspiel?
Das Carillon ist eine Sonderform des Glockenspiels. Mit „Glockenspiel“ bezeichnet man verschiedene Instrumente wie beispielsweise Stäbespiele, Schellenspiele, Röhrenglocken etc., deren Tonumfang in den meisten Fällen sehr gering ist. Wir finden solche Glockenspiele an Häuserfassaden, Kirch- oder Rathaustürmen, manchmal auch in Verbindung mit einem Figurenspiel. Sie werden in der Regel durch eine automatische Spielmechanik (gelegentlich auch durch einen elektrischen Pianospieltisch) zum Klingen gebracht. Das Carillon dagegen ist ein vollchromatisches (Tonabstände in Halbtonschritten) Instrument, das über mindestens 23 gegossene Bronzeglocken verfügen muß. Der gravierendste Unterschied aber besteht darin, daß ein Carillon nur durch einen Spieler (Carillonneur) an der Hebelklaviatur (niederl. „Stokkenklavier“) zum Klingen gebracht werden kann, was feinste Spielnuancen erlaubt (vergleichbar dem Klavierspiel). Ein Glockenspiel dagegen wird durch Walzen o.ä. ausgelöst, wobei nur gleichstarke, nuancenlose Stücke erklingen können (vergleichbar dem Spiel eines elektrischen Klaviers). Die Glocken eines Carillons müssen genau gestimmt sein, um harmonische Effekte im Zusammenspiel zu gewähren. Die Glocken werden dicker als notwendig gegossen und durch das Abtragen von Metall an verschiedenen Stellen, je nach gewünschter Obertonänderung, gestimmt. Die verwendete Legierung besteht aus ca. 80% Kupfer und 20% Zinn. Viele Carillons besitzen neben der Hebelklaviatur auch automatische Spieleinrichtungen, die zu bestimmten Tageszeiten kleinere, nuancenlose Melodien spielen, ausgelöst durch die Turmuhr.
Wie groß sind Carillons?
Die Instrumente können in der Größe sehr differieren und sind fast immer in verschiedenen Zusammensetzungen zu finden, mindestens aber müssen sie den Tonumfang von zwei Oktaven haben. Carillons zum Konzertgebrauch sind in der Regel mit 48-50 Glocken ausgestattet. Maßgebend für den spezifischen Klang ist jedoch nicht ihre Anzahl, sondern Gewicht und Tonhöhe der Glocken. So wiegt z. B. die größte Glocke („Bourdon-Glocke“) des Carillons in Heidelberg 65 kg, während die größte Glocke des Wiesbadener Carillons 2,2 Tonnen wiegt und damit zur Gruppe der „schweren Carillons“ gehört. Die Bourdon-Glocke des weltgrößten Carillons in der Riverside Church New York hat ein Gewicht von fast 20 Tonnen. Es gibt also durchaus Carillons mit vielleicht 25 Glocken, die schwerer sind als manche mit 50 Glocken. Im Gegensatz zu Klavieren und Orgeln sind Carillons in ihrem Aufbau nicht genormt. Die Tasten am Stockspieltisch beginnen in der Baßlage fast immer mit dem Ton c. Auf dieser Taste muß aber nicht unbedingt auch ein c erklingen, da die Instrumente verschieden (je nach Ton der Basis-Glocke) transponieren.
Wie spielt man Carillon?
Die Glocken eines Carillons sind in einer Stahlkonstruktion fest aufgehängt. Es bewegen sich nur die Klöppel im Innern der Glocke, die durch Drahtzüge über ein Wellenbrett mit Winkeleisen mit der Klaviatur im Turm, in unmittelbarer Nähe der Glocken, verbunden sind; eine Feder sorgt für den Rückzug des Klöppels. Von dieser Klaviatur aus werden die Glocken ohne jede Fremdhilfe durch die eigene Kraft des Carillonneurs zum Erklingen gebracht. Nur durch eine solche Hebelklaviatur, die aus zwei Reihen kleiner, abgerundeter Holzhebel (Tasten) und einer Pedalklaviatur besteht, ist es möglich, differenzierte Klänge und Nuancen zu erzeugen. Die Spieltische haben sich im Lauf der Geschichte regional unterschiedlich entwickelt. Verschiedene Tastenabstände, Pedallagen, Tastenhübe und notwendige Anschlagsstärken machen einem fremden Glockenspieler manchmal schwer zu schaffen. Man differenziert zwischen einer nordamerikanischen und mitteleuropäischen Norm für Carillon-Spieltische, wobei erstere durch engere Tastenabstände bzw. radiale Pedal-Anordnung eine bequemere Spielart anstrebt, letztere sich unter Beibehaltung der historischen (Parallel-) Anordnung der Tasten den alten Instrumenten verpflichtet sieht. Mit geschlossenen Händen drückt der Carillonneur die Manualtasten und mit seinen Füßen die Pedaltasten für die großen Glocken hinunter, auch kann er durchaus zwei Tasten mit einer Hand greifen. Der beim Anschlag einer jeden Glocke entstehende Oberton der Mollterz macht sich besonders bei tiefen Dreiklängen unangenehm bemerkbar. Akkorde werden deshalb in besonderer Art schnell arpeggiert. Gleichzeitig muß die Dynamik beim Spiel stark differenziert werden. Die tiefen und schweren Glocken haben einen langen Nachhall und dürfen deshalb nicht durch zu kräftiges Anschlagen die Oberstimmen verdecken. Die wertvollste Eigenschaft eines handgespielten Carillons ist deshalb diese differenzierte Dynamik. Sie muß vom Spieler je nach Kompositionsart variabel eingesetzt werden. Da ein Carillon keinerlei Dämpfer hat, erklingen alle Glocken je nach Größe und Stärke des Anschlages lang oder kurz nach. Diese Eigenschaft des Instrumentes ermöglicht viele, ausschließlich auf Carillons erzeugbare Effekte. Darin besteht der eigentliche Reiz dieses Instrumentes, das ein unverwechselbares Klangbild entstehen läßt. Für den mit solchen Klängen nicht vertrauten Zuhörer ist sicherlich eine Zeit des Sich-Einhörens (und -Wollens!) erforderlich. Ein Übungsspieltisch, der einer Hebelklaviatur gleicht und mit metallenen Klangplatten anstatt Glocken ausgestattet ist, ermöglicht das Üben in einem Turmraum, ohne gleich eine ganze Stadt zu alarmieren.
Welche Musik spielt man auf einem Carillon?
Das Repertoire ist unbegrenzt: An erster Stelle stehen die Originalwerke, darunter vor allem die Kompositionen des Matthias van den Gheyn (1721-1785). Er stammte aus einer Glockengießerfamilie und war Komponist, Organist und Glockenspieler in Leuwen (Belgien) und wird als „Bach des Glockenspiels“ bezeichnet. In den Niederlanden gehören alle Türme seit 1798 zur kommunalen Verwaltung. Kirchtürme sind hier, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein Kirchenbesitz. Über die Auswahlkriterien der zu spielenden Werke entstanden deshalb fast naturgemäß Streitigkeiten. Die nicht einfache Trennung von sog. weltlicher und geistlicher Musik führte z. B. zum Bau von zwei Carillons in der Kathedrale zu Antwerpen! Carillonneur an dieser Kathedrale war Johann de Gruytters (1709-1772). Von ihm stammt ein Notenbuch mit eigenen Werken und eigenen Bearbeitungen zeitgenössischer Komponisten (Händel, Vivaldi, Couperin u.a.). Zur Aufgabe der Glockenspieler jener Zeit gehörte es auch, ihre Kompositionen oder Bearbeitungen mit Eisenstiften in entsprechender Anordnung auf die Trommel des automatischen Spiels zu stecken, damit diese rotierende Trommel dann die Melodien der Glocken auslösen konnte. In sogenannten „Versteckbüchern“ (vom „Stecken“ der Stifte) zeichneten die Komponisten ihre Werke auf. Mehrere solcher Bücher sind gefunden und teilweise veröffentlicht worden. Sie zeigen viel von der Glockenspielkultur dieser Zeit. Die Wiederentdeckung des Glockenspiels durch Jef Denijn löste eine neue Kompositions- und Bearbeitungswelle aus. Niederländer und Belgier regten durch Kompositions- und Spielwettbewerbe die Schaffenskraft einer neuen Glockenspielergeneration an: Die Werke von Leen’t Hart, Géo Clement, F. Timmermans, W. Créman, Albert de Klerk und der Amerikaner Gary White, Ronald Barnes, Albert Gerken u.a. werden heute viel gespielt. Neben dem Spiel von alter und neuer Originalliteratur bietet das Feld der Bearbeitungen und Arrangements viele zusätzliche Möglichkeiten. Jeder Carillonneur muß heute fast immer für sein Instrument bearbeiten (unterschiedlicher Tonumfang und Schwere des Instruments). Dabei sind Werke aus allen Epochen vom Gregorianischen Choral bis zur (zumindest auf „säkularen“ Türmen) Popmusik üblich. Eine wichtige Rolle spielt auch die Kunst der Improvisation. Voraussetzung für ein musikalisch wertvolles Carillonspiel ist die Konstruktion eines durchsichtigen Notensatzes. Bearbeitungen müssen die Originalvorlage auf die wesentlichen Elemente vereinfachen. Geeignet sind hierfür nicht nur Klavier- oder Orgelkompositionen, sondern auch Gitarren- und Lautenmusik sowie alte Blockflötenliteratur. Wegen des langen Nachhalls ist die Anwendung von wenigen Baßnoten, eine geringe Stimmenzahl sowie keine allzu schnellen Harmoniewechsel zu beachten.
Das Carillon der Marktkirche Wiesbaden
Am 31. Oktober 1986 (Reformationstag) wurde das durch die niederländische Glockengießerei Koninklijke Eijsbouts (Asten) erbaute Carillon mit einer Feierstunde in der überfüllten Marktkirche seiner Bestimmung übergeben. Das anschließende Festkonzert spielte der renommierte niederländische Carillonneur Arie Abbenes (Dom zu Utrecht). Finanziert wurde das schon 1983 durch Pfarrer Thomas-Erik Junge und Kantor Hans Uwe Hielscher initiierte Glockenspielprojekt ausschließlich durch Spenden und durch eine Zuwendung der Landeshauptstadt Wiesbaden. Das Wiesbadener Carillon besteht aus 49 Bronzeglocken mit einem Tonumfang von c1 – d1 – e1 – f1 – chromatisch bis d5. Dabei wurden vier der fünf vorhandenen Läuteglocken in das Spiel integriert (d1 – e1 – fis1 – a1), d. h. diese vier Glocken haben zusätzlich einen Außenhammer, der mit dem Spieltisch verbunden ist. Die größte Glocke des Instruments (c1) hat ein Gewicht von 2,2 Tonnen, die kleinste (d5) wiegt 13 kg. Das Gesamtgewicht aller Glocken beträgt 11 Tonnen bzw. 21 Tonnen einschließlich der gesamten Stahlkonstruktion des Glockenstuhls etc. Die 45 neu gegossenen Glocken sind in dem eigens dafür konstruierten Glockenstuhl im (mittleren) Hauptturm der Kirche installiert (ca. 60 m hoch, oberhalb der vorhandenen Läuteglocken, unterhalb der beginnenden Turmspitze). In einer kleinen, vor Wetter und Lautstärke schützenden Spielkabine, auf der Ebene zwischen Läute- und Carillon-Glocken, ist der Spieltisch untergebracht, der über 290 Treppenstufen zu erreichen ist. 37 Glocken sind außerdem mit einer automatischen Spieleinrichtung ausgestattet (mit je einem zweiten Hammer am Äußeren der Glocken). Dadurch wird ein tägliches, kurzes Spiel zu festgesetzten Zeiten ermöglicht, das von einem Computer gesteuert wird. Vorrangig wird das Carillon aber „live“, d.h. von Hand gespielt: in regelmäßigen Konzerten zur Marktzeit am Samstagmittag, aber auch bei Gottesdiensten und Festveranstaltungen der Marktkirche. Man hört das Carillon am günstigsten auf dem gesamten Vorplatz der Marktkirche in einiger Entfernung zum Turm, aber auch in der benachbarten Parkanlage und auf dem Marktplatz vor dem Rathaus – überall dort, wo man zwei Seiten des Hauptturmes sehen kann und dadurch das Instrument „räumlich“ hört.